Europa hat ein massives Problem: Neben den europäischen Gaspreisen hat sich inzwischen auch der Strommarkt von jeder Normalität abgekoppelt. Die Terminkontrakte für Grundlast-Strom 2023 haben sich zuletzt nahezu verzehnfacht. Der exorbitante Preisanstieg nicht nur bei Gas, sondern nun auch bei Strom, gefährdet akut die europäische Wirtschaftsentwicklung. Das aktuelle Chaos am Energiemarkt ist vor allem eine Folge des Ukraine-Krieges. „Was weit weniger bekannt ist: Deutschland spielt bei der Explosion der europäischen Energiepreise eine unrühmliche Rolle, konstatiert Heinz-Werner Rapp, Gründer und Leiter des FERI Cognitive Finance Institute, in seinem aktuellen Marktkommentar.
Das Erbe der verfehlten deutschen Energiepolitik
Aktuell leidet speziell Deutschland unter der scharfen Verknappung des Gasangebots. Dies ist eine direkte Folge der über viele Jahre völlig verfehlten deutschen Energiepolitik. Sowohl der abrupte Atomkraftausstieg im Jahr 2011 als auch das Ende der Kohleverstromung sind beschlossen worden, ohne den wachsenden deutschen Energiebedarf seriös zu berücksichtigen. Als Folge davon hat Deutschland sich so stark von russischem Erdgas abhängig gemacht wie kaum ein anderes europäisches Land. Die frühe Kritik anderer EU-Länder an der Gaspipeline Nordstream 2 belegt klar, dass Deutschland sich dabei in unhaltbare Positionen verstrickt hat.
Deutschland verursacht gefährliche „Zweitrundeneffekte“
Zu den Besonderheiten des europäischen Energiemarktes zählt, dass auch der Strompreis vom – inzwischen massiv angestiegenen – Preis für Erdgas abhängig ist. Dies ist eine Folge des sogenannten Merit-Order-Systems, in dem die jeweils teuerste Art der Energieerzeugung – derzeit Gas – auch die Höhe der Strompreise determiniert. „Deutschland versucht derzeit ohne Rücksicht auf die Preise, sich Erdgas am freien Markt zu beschaffen. Der Erdgaspreis steigt deshalb immer weiter, treibt dabei aber auch die europäischen Strompreise massiv nach oben“, erklärt Rapp. Terminmarktpreise für Strom im Jahr 2023 zeigten zuletzt einen Anstieg von rund 1.000 Prozent. Übertragen auf Öl entspräche dies für 2023 einem Preissprung auf 1.000 Dollar pro Barrel. „Die Preisexplosion im europäischen Gas- und Strommarkt gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung Europas in höchstem Maße. Leider wird das Chaos stark durch Deutschland getrieben, als Folge einer jahrelang sehr naiven Energiepolitik“, sagt Rapp.
Deutschland muss deshalb alles dafür tun, den europäischen Energiemarkt schnell zu flexibilisieren. Wirtschaftsminister Robert Habeck hat das Problem erkannt und plant eine Entkopplung der Strompreise vom Gasmarkt. Kommt es nicht zu einer solchen Flexibilisierung, droht Europa nicht nur ein kalter Winter, sondern zugleich auch eine scharfe Rezession mit zahlreichen Unternehmenspleiten, so die Einschätzung des FERI Cognitive Finance Institute.