Die Finanzmärkte neigen dazu, oftmals irrational zwischen Angst und Gier zu schwanken, konstatiert Jan Viebig, Chief Investment Officer der ODDO BHF SE, in seinem Kommentar. Für einen Investor ist es wichtig, beide Dimensionen im Blick zu behalten: die rationale, nüchterne Analyse der tatsächlichen ökonomischen Entwicklung und die Stimmung unter den Anlegern. Die nüchterne Analyse der ökonomischen Entwicklung zeigt, dass sich die Konjunktur in den nächsten Monaten vermutlich weiter eintrüben wird.
Die inversen Zinsstrukturkurven und die Frühindikatoren – wie etwa die jüngst veröffentlichten Einkaufsmanagerindizes – deuten darauf hin, dass wir in den nächsten Monaten vermutlich eine konjunkturelle Abkühlung erleben werden. Diese dürfte vermutlich in Europa stärker ausfallen als in den USA. Die Ratingagentur Fitch erwartet, dass die US-Wirtschaft im vierten Quartal 2023 und im ersten Quartal 2024 eine leichte Rezession erleben und das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,2 Prozent in diesem Jahr auf 0,5% im nächsten Jahr fallen wird. Genau diese Ratingagentur hat den USA zudem am Mittwoch die Bestnote AAA entzogen und die Kreditwürdigkeit der US-Regierung auf AA+ gesenkt. Die Entscheidung der Ratingagentur reflektiert die laxe Schuldenpolitik und die regelmäßigen Dramen um das zuletzt wieder einmal verschobene Schuldenlimit in den USA.
Als langfristige Investoren erwarten wir, dass Aktien auf lange Sicht von mehreren Jahren typischerweise steigen. Seit 1969 gab es keine einzige Phase, in der Aktien gemessen am MSCI-World-Index über eine Periode von 15 Jahren gefallen sind. Kurzfristig aber nimmt die Gefahr einer Korrektur zu. Natürlich kann die derzeitige Phase des Überoptimismus lange anhalten. Das hat die Erfahrung gelehrt. Doch ein – emotionsloser – Blick auf die Fakten zeigt, dass die Aktienmärkte, insbesondere in den USA, aktuell hoch bewertet sind.
Die höhere Wahrscheinlichkeit einer Korrektur bedeutet nicht zwingend, dass sie tatsächlich auch eintritt. Aufgrund des bereits hohen Optimismus unter den Privatanlegern, des Abkühlens der Konjunktur und der relativ hohen Bewertungen sind dem Potenzial auf weitere kurzfristige Kurssteigerungen an den Aktienmärkten enge Grenzen gesetzt. Ein reinigendes Gewitter an den Aktienmärkten könnte langfristigen Investoren wieder gute Einstiegschancen eröffnen.