Auch wenn der Marktkonsens für das neue Jahr zu einer „weichen Landung“ der Wirtschaft tendiert, ist Kapitalmarktstratege Tilmann Galler von J.P. Morgan Asset Management für 2024 etwas weniger optimistisch. „Wir sind der Meinung, dass es für die Zentralbanken zu früh ist, einen nachhaltigen Sieg über die Inflation zu verkünden. Trotz Zinssenkungen wird es im Jahr 2024 wahrscheinlich nicht gelingen, eine wirtschaftliche Schwächephase zu verhindern“, so sein Ausblick für das kommende Jahr. Er hat insgesamt 10 Thesen zur wirtschaftlichen Entwicklung 2024 vorgestellt – ein Jahr, in dem in mehr als 40 Ländern Wahlen anstehen. Dazu gehören vier der fünf bevölkerungsreichsten Länder der Welt, etwa die USA, Indonesien und Indien, zudem stehen Europawahlen an und auch die Briten gehen an die Wahlurne. Insgesamt werden die Wahlen mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung und des globalen Bruttoinlandsprodukts abdecken.
1. These: Das Ende des Zuckerrausches – deutliche Abkühlung des Wachstums
Obwohl für das endende Jahr 2023 ein schwieriges Konjunkturumfeld erwartet wurde, ist die US-Wirtschaft sogar über Trend gewachsen. Auch die Aktienmärkte haben die Erwartungen deutlich übertroffen. Dieses Wachstum wurde laut Galler unter anderem von einer sehr expansiven Fiskalpolitik angeschoben. Gestiegene Finanzierungskosten und die fortlaufende Bilanzreduktion der Zentralbanken geben für das Jahr 2024 den USA und den Ländern der Eurozone weniger Spielraum. Dies dürfte, so der Experte, zu einem geringeren Wachstum oder möglicherweise sogar zu einer Rezession führen. Die weiterhin schwachen Einkaufsmanagerindizes sind ein weiteres Indiz für eine verhaltene Nachfragesituation.
Im zurückliegenden Jahr, so der Ökonom, haben sich die Volkswirtschaften bislang als sehr widerstandsfähig erwiesen – die bremsende Wirkung der hohen Zinsen entfaltet sich nur langsam. Gutes Anschauungsmaterial liefert hier der US-Wohnimmobilienmarkt. Während die Preise bisher relativ stabil geblieben sind, gab es bei den Transaktionen von Bestandsimmobilien einen noch größeren Einbruch als während der Häuserkrise zwischen 2007 und 2009. Die Ursache liegt in den stark gestiegenen Hypothekenzinsen, die alle Haushalte mit Neu- und Refinanzierungsbedarf betrifft. Noch sind nur wenige Haushalte davon betroffen, aber je länger das Zinsniveau auf erhöhtem Niveau verharrt, desto negativer werden die Effekte für das Haushaltseinkommen. „Bisher konnten die US-Konsumenten von den Überschussersparnissen aus der Pandemie zehren, auch haben kräftige Lohnerhöhungen den Konsum unterstützt. Doch im Verlauf des nächsten Jahres lässt der Rückenwind nach“, erläutert Galler.
Im Vergleich zu den USA hat die EU einen etwas größeren fiskalischen Spielraum. Viele Gelder des EU Recovery Fund sind noch gar nicht abgerufen worden, sodass noch weitere Zuschüsse verwendet werden können. Dies sollte gerade in der Peripherie das Wachstum stützen. Auch auf der Reallohnseite sind für die kommenden Monate kräftige Steigerungen zu erwarten. Die Wachstumsschere zwischen der US-Wirtschaft und Europa dürfte sich beginnen zu schließen.
2. These: Zentralbanken läuten die Zinswende ein
Zwar hat sich die Inflation in den letzten Monaten bereits stark zurückentwickelt, es gibt aber hartnäckige Bereiche bei Dienstleistungen, die beispielsweise durch die Lohnsteigerungen weiter hochgehalten werden. So ist laut Galler der letzte Schritt zum Inflationsziel schwierig. Der Experte betont jedoch, dass 2023 das Zinshoch erreicht wurde und im nächsten Jahr die Zinswende kommen sollte – es sei für Anlegerinnen und Anleger somit eine gute Zeit, das attraktive Zinsniveau zu nutzen. Denn nachdem die Zentralbanken zuletzt mit dem Erhöhungszyklus pausiert haben, geht der Markt aktuell bereits für März von den ersten Zinssenkungen aus. „Das halten wir zwar für etwas früh, aber im Falle eines konjunkturellen Schwächeanfalls dürfte es im Verlauf des Jahres zu kräftigen Senkungen kommen“, erläutert Galler. Dass in den USA inzwischen mehr als fünf Zinssenkungen eingepreist sind, spricht laut dem Experten jedoch eher für einen verhaltenen Konjunkturausblick als für ein Soft-Landing – auch wenn der Aktienmarkt dies gerade feiert. „Üblicherweise gehen geldpolitische Straffungen mit einer Rezession einher“, warnt der Experte.
3. These: Anleihenrenditen fallen
Wer im nächsten Jahr das Anlageportfolio gegen schwaches Wachstum oder gar eine Rezession schützen will, für den bietet es sich an, auf die Sicherheit langfristiger Anleihen mit hoher Bonität zu setzen. Laut Galler profitieren Anlegerinnen und Anleger, die die aktuell attraktiven Zinsen für ihr Portfolio gesichert haben, dass die Anleihenrenditen in einem disinflationären Rezessionsszenario fallen – wenn Zentralbanken die Leitzinsen senken und Investoren Zuflucht in hoher Bonität suchen.
4. These: Zinsstrukturkurve normalisiert sich
Im nächsten Jahr sollte sich laut Galler dann auch die invertierte Zinsstrukturkurve wieder normalisieren. Auf die zu erwartende Abkühlung der volkswirtschaftlichen Nachfrage und damit auch der Inflation werden die Notenbanken mit kräftigen Zinssenkungen reagieren. Die Renditen am kurzen Ende der Kurve dürften deshalb im Verlauf des Jahres unter die Renditen am langen Ende fallen.
5. These: Cash ist nicht King
Auch wenn sich aktuell mit Cash – sei es Tagesgeld oder Geldmarktinvestments – eine positive Realrendite erzielen lässt, sieht der Experte diese als eine „Fata Morgana“ an: Laut Galler ist es auf Zweijahressicht sinnvoll, nach dem Ende eines Straffungszyklus auf längerfristige Anleihen zu setzen, da bereits im nächsten Jahr die Zinswende erwartet wird. Der Ökonom erkennt hierin das vorausschauende Verhalten der Finanzmärkte: „Mit dem letzten Zinsschritt der Notenbank wird eine bremsende Wirkung auf die Konjunktur bis hin zu einer Rezession antizipiert. So ist die Freude über höhere Kurzfristzinsen oft nur von kurzer Dauer, während die Anleihen von den aufkommenden Zinssenkungshoffnungen profitieren. Cash ist also nur King, solange die Notenbanken sich im Zinserhöhungsmodus befinden“, führt Galler aus.
Der Experte betont, dass Cash gerade für die langfristige Anlage wenig Mehrwert bietet und rechnet vor: Seit 1900 wäre ein US-Dollar mit einem Geldmarktinvestment nach Inflation gerade einmal auf 1,70 US-Dollar angewachsen. Bei US-Anleihen wären es über den gleichen Zeitraum immerhin neun US-Dollar. Die mit Abstand beste Wertentwicklung auf realer Basis gehört der Aktie. Aus einem US-Dollar als Investment im Jahre 1900 wären heute real 2.600 US-Dollar geworden.
6. These: Investment Grade schlägt High Yield
Galler betont, dass im nächsten Jahr bei allen Investments Qualität im Fokus stehen sollte – sowohl auf der Aktien-, als auch auf den Rentenmärkten. Wenn die Ertragslage der Unternehmen schlechter wird, zeigt sich, wie gut die Qualität tatsächlich ist. Die höheren Zinskosten werden empfindlich auf die Ertragssituation drücken, wenn der Refinanzierungsbedarf der Unternehmen in den nächsten Jahren steigt. Dies betrifft zunächst die Unternehmen mit guter Bonität (Investment Grade), aber auch das Hochzinssegment. Die Risikoaufschläge im High Yield preisen derzeit noch ein Soft-Landing ein, doch das könnte sich als trügerisch erweisen. Und mit Blick auf die Schwellenländeranleihen sieht der Experte gute Opportunitäten im Lokalwährungsbereich, insbesondere in Ländern mit aktuell hohen Realrenditen. Das Währungsrisiko wird aufgrund der einsetzenden wirtschaftlichen Schwäche im Vergleich zu 2023 jedoch größer.
7. These: Margen unter Druck
In 2023 waren die nach oben korrigierten Gewinnerwartungen einer der Performancetreiber für den Aktienmarkt. Als Hinweis auf die Zukunft deuten sie die Erwartung einer positiven Ertragssituation an. Können aber die Gewinnerwartungen der Realität standhalten? „Die Konjunkturdelle in Verbindung mit der Inflationsentwicklung wird die Wirtschaft schwächen, was die Gewinne sicherlich unter Druck setzt. Die Konsenserwartungen sind sehr optimistisch, für die USA sogar knapp zweistellig. Wenn sich der zyklische Rückenwind 2024 aber zumindest teilweise umkehrt, können die Unternehmen die steigenden Kosten für Energie, Vorleistungsgüter und Arbeitskräfte nicht mehr wie bisher weitergeben“, dämpft der Experte die Erwartung und geht davon aus, dass die Gewinnerwartungen für das nächste Jahr gesenkt werden sollten.
8. These: Qualität vor Zyklikern
Aktuell liegen die Bewertungskennzahlen in den meisten wichtigen Aktienmärkten nahe oder leicht unterhalb ihrer historischen Durchschnittswerte beziehungsweise in den USA leicht darüber. In den Bewertungen sind jedoch relativ optimistische Annahmen über das Gewinnwachstum der nächsten 12 Monate inkludiert. Doch selbst unter der Annahme einer Stagnation der Gewinne sind die Bewertungen nicht sonderlich teuer. Die fundamentalen Rahmenbedingungen sind gut, aber für Zeiten schwacher Wirtschaft sind grundsätzlich Unternehmen mit hoher Qualität und wenig Verschuldung besser gewappnet, und so gilt es laut Galler selektiv vorzugehen. Auch zeige der Angleich von Gewinnrenditen bei Aktien und Unternehmensanleihen, dass Aktien wieder Konkurrenz bekommen haben.
9. These: Dividendenaktien sind relative Gewinner
Ein Segment, das Tilmann Galler gleichwohl weiterhin für sinnvoll erachtet, sind die Dividendentitel, die sich als defensive Beimischung für das Portfolio eignen: „Globale Aktien mit einer stabilen, überdurchschnittlichen Dividendenrendite konnten in den vergangenen zwanzig Jahren einem wirtschaftlichen Abschwung besser widerstehen als der breite Markt. Das zeigte sich beispielsweise 2000 bis 2002. Die Gemeinsamkeit mit dem heutigen Umfeld liegt nicht nur in den hohen Tech-Bewertungen, sondern auch an den niedrigen Ausschüttungsquoten der Unternehmen. Aktuell werden global nur 39 Prozent der Gewinne ausgeschüttet, das sind 3 Prozentpunkte weniger als im 25-jährigen Durchschnitt. Das aktuelle Dividendenniveau bietet dadurch einen Puffer gegen einen Rückgang der Gewinne im Falle einer Rezession“, führt der Ökonom aus.
10. These: Aktienmärkte mit höherer Volatilität
Nicht zuletzt aufgrund des „Superwahljahres“ 2024, in dem in zahlreichen Ländern rund um den Globus gewählt wird, erwartet der Experte Marktschwankungen. Gerade im Zusammenhang mit den aktuellen geopolitischen Unsicherheiten wird die Volatilität hoch sein. Allerdings können laut Tilmann Galler alternative Anlagen die Schwankungen des Portfolios dämpfen. Grundsätzlich ist es oft schwierig, den Ausgang von Wahlen vorherzusagen, und noch schwieriger was die konkreten Implikationen für die Kapitalmärkte sind. Langfristig gibt es keine eindeutige Korrelation zwischen Regierungspartei und Marktperformance.
Und so lautet Tilmann Gallers Basisszenario für 2024, dass das Ende des Zinszyklus kommt, und da die Wirtschaft schwächer wird, das Portfolio defensiver ausgerichtet werden sollte. „Es lohnt sich, jetzt auf längere Laufzeiten statt Tagesgeld und Geldmarkt zu setzen, solange die Zinsen oben sind. Ergänzend können defensive, qualitativ hochwertige Aktien wie Dividendentitel helfen, das Portfolio durch die wohl etwas schwankungsreichere Zeit 2024 zu navigieren,“ so Gallers Fazit.