Die Erwerbsunfähigkeitsversicherung (EU-Versicherung) wird bei der Absicherung der Arbeitskraft oft gemieden. Zu Unrecht, findet Michael Franke. Seit langem plädiert der Versicherungsexperte dafür, dass diese Absicherung in der Branche mehr Beachtung findet. Etwa, wenn es um Handwerker geht: Sie können sich den Königsschutz, die Berufsunfähigkeitsversicherung (BU-Versicherung), nicht leisten, weil die Versicherer die Absicherung „schlechter“ Berufsgruppen immer teurer gemacht haben. „Die naheliegendste Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung sehen wir in der Erwerbsunfähigkeitsversicherung. Sie schließt keine Krankheitsursachen aus. Der konkrete Beruf ist hier zwar nicht versichert, handwerklich tätige Personen haben aber vielfach ein ähnliches Anforderungsprofil, was die körperlichen Fähigkeiten angeht. Starke körperliche Einschränkungen würden also in vielen handwerklichen Berufen gleichermaßen zu einer Leistung führen“, sagte Franke bereits 2021 dem „handwerk magazin“. Zwei Jahre später auf der Vermittlermesse DKM forderte Franke die Branche zur „Segmentberatung“ auf. „Reden Sie über die Bedeutung der Arbeitskraft und stellen Sie fest, ob es einen Bedarf gibt“, so der Experte damals. Wer eine automatische Gesundheitsprüfung, etwa über „versdiagnose“, anstoße, wisse dann, welche Versicherbarkeit möglich ist und könne zur BU-, EU- oder Grundfähigkeitsversicherung beraten. „Dann können zudem die Vor- und Nachteile der Produkte erläutert werden“, so seine Einschätzung.
Auf der jüngsten DKM 2024 hat Franke seine Forderungen noch schärfer formuliert und die Assekuranzen aufgefordert, mehr EU-Tarife auf den Markt zu bringen. Denn die EU-Versicherung könnte – im Gegensatz zur BU-Versicherung – das „ideale Breitenprodukt“ sein. Psychische Erkrankungen und schwere Krebserkrankungen wären durch die EU-Versicherung „vernünftig abgesichert“. Denn wer aus psychischen Gründen seinen Beruf nicht mehr ausüben könne, sei oft auch in keinem anderen Beruf einsetzbar. Immerhin liege der Anteil psychischer Erkrankungen bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente bereits bei über 40 Prozent. Andere Ursachen spielen zwar eine geringere Rolle, aber wie beim BU-Schutz wären auch beim EU-Schutz alle Erkrankungen abgedeckt, denn die Versicherung ist ein offenes System ohne Einschränkung auf bestimmte Krankheiten oder Fähigkeiten. Wichtig wäre, dass Vermittler ihren Kunden klar erläutern, dass die EU-Versicherung erst greift, wenn man nicht mehr länger als drei Stunden täglich arbeiten kann. Das heißt, der Versicherungsnehmer müsste außerstande sein, irgendeine Erwerbstätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts für mindestens drei Stunden täglich auszuüben.
Franke steht mit seiner Einschätzung nicht allein da. „Die EU-Versicherung ist gerade bei körperlich belastenden Berufen eine bezahlbare, sinnvolle und vollständige Absicherung der Arbeitskraft“, sagt Thorsten Saal, Bereichsleiter Mathematik & Rating bei Morgen & Morgen. Andere Alternativprodukte wie Grundfähigkeiten- (GF), Dread-Disease- oder Unfallversicherungen stellten hingegen lediglich eine Ausschnittsdeckung dar. Saal: „Die EU-Versicherung hingegen deckt das gesamte Risiko der Erwerbsunfähigkeit ab – ein Aspekt, der in der Diskussion um die Arbeitskraftabsicherung viel zu wenig gewürdigt wird.“ Noch schlimmer: Analyst Saal hat festgestellt, dass immer mehr Versicherer ihre EU-Tarife vom Markt zurückziehen. Der Grund: Die EU-Versicherung wird zu wenig vermittelt. Möglicherweise hat die EU-Versicherung durch die Einführung der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente, nach Abschaffung des gesetzlichen Berufsschutzes, ein negatives Image erhalten. Nach Meinung von Saal zu Unrecht. Kunden, die „nur“ durch eine EU-Police geschützt werden, müssen zwar aufgrund der höheren Eintrittsbarriere – durch die Zumutung einer anderen Tätigkeit – auch einen sozialen Abstieg in Kauf nehmen. Das Alles-oder-Nichts-Prinzip, also BU-Schutz oder gar kein Arbeitskraftschutz, ist aber nach seiner Einschätzung der falsche Weg in der Beratung.
Fakt bleibt, dass gerade in Berufen mit hohem Risiko, wie Dachdecker, die BU-Police meist kaum bezahlbar ist. Das zeigt ein Vergleich von Morgen & Morgen (siehe Tabelle auf Seite 50). So zahlt ein 30-jähriger Dachdeckermeister bei einer „Arbeitskraft-Verlust-Rente“ von 2.500 Euro für die günstigste Top-EU-Police am Markt 124 Euro pro Monat. Wer hingegen einen Top-BU-Schutz kauft, muss mindestens 192 Euro pro Monat zahlen. Also im Jahr über 800 Euro mehr gegenüber der günstigsten EU-Police. Zwar ist die günstigste GF-Police mit 101 Euro genau 23 Euro pro Monat günstiger als der beste EU-Schutz. Doch auch psychische Krankheiten sind in der GF-Police gar nicht abgesichert. Ähnlich verhält es sich beim Friseurmeister. Hier ist der BU-Schutz um rund 79 Euro pro Monat teurer als eine EU-Absicherung. Angesichts einer Laufzeit der Policen von 37 Jahren sind Prämienvorteile ein wichtiges Kaufargument.
„Obwohl der Markt für Erwerbsunfähigkeitsversicherungen kleiner wird, bieten die verbleibenden Tarife eine sehr gute Qualität“, betont Experte Saal. Alle dargestellten Tarife haben von Morgen & Morgen die Höchstbewertung von fünf Sternen für ein Top-Leistungsniveau erhalten. Für Vermittler ist das ein wichtiges Signal. Sehr guter EU-Schutz ist weiterhin möglich. Saal: „Die Absicherung der Arbeitskraft ist und bleibt alternativlos. Ob BU oder EU – beide Produkte haben ihre Berechtigung und sollten je nach individueller Situation in Betracht gezogen werden.“ Der Schlüssel liege in der richtigen Beratung und einer stärkeren Aufklärung über die Vorteile des EU-Schutzes, insbesondere für körperlich tätige Berufsgruppen. Nur so könne die EU-Versicherung aus ihrem Schattendasein herausgeholt und als echte Alternative zur BU-Versicherung wahrgenommen werden.
Durch eine starke Berufsgruppendifferenzierung ist hingegen die Absicherung von Akademikern in der BU-Police immer günstiger geworden. Hier liegt schon fast der Verdacht nahe, dass aufgrund des scharfen Wettbewerbs mit Dumpingpreisen gearbeitet wird. „Ob alle Versicherer in diesem Segment auskömmlich kalkulieren, wird die Zukunft zeigen“, warnt etwa der Versicherungsmakler Matthias Helberg aus Osnabrück. Daher sollten Vermittler und Kunden auf die Differenz zwischen der Höchstprämie und dem aktuellen Zahlbeitrag achten. Dieser Unterschied entsteht, weil die Versicherer Überschüsse aus Risiko und Kapitalanlage als direkten Rabatt an die Kunden weitergeben. Fallen diese aber teilweise oder ganz weg, darf der Versicherer die Monatsbeiträge bis zur Höchstprämie anpassen. Helberg: „Wir empfehlen seit vielen Jahren, auf Netto- und Bruttoprämien zu achten. Je größer die Spreizung dazwischen ist, desto schlechter könnte es für die Kunden ausgehen, wenn Versicherer die Überschussbeteiligung anpassen müssen.“
Unser Mustervergleich für Dachdeckermeister zeigt, dass die Versicherer mit sehr unterschiedlichen Aufschlägen arbeiten. So gilt beispielsweise bei der Europa für den EU-Schutz im Tarif „Erwerbsunfähigkeitsversicherung E-EU“ ein möglicher Teuerungsaufschlag von fast 67 Prozent, denn statt 124 Euro könnte die Absicherung auch 206 Euro kosten. Demgegenüber muss der Kunde bei der Axa im Tarif „ALVSEV“ lediglich mit 37 Prozent Aufschlag rechnen. Im Monat könnte bei der Kölner Assekuranz die aktuelle Prämie von 128 Euro lediglich auf 175 Euro steigen. Eine geringere Spanne zwischen Brutto- und Nettoprämie ist somit ein gewichtiges Argument bei der Auswahl und Beratung.
Aktuell wird die Vermittlung der Arbeitskraft nicht einfacher, wie Praktiker feststellen. So wird der Schutz zwar durch veränderte Zinsen günstiger (siehe Textkasten auf Seite 49). Doch gleichzeitig muss durch höhere Einkommen und Inflation ein viel höherer Schutz eingekauft werden. „Wo vor ein paar Jahren eine BU-Rente in Höhe von 2.000 Euro ausreichend gewesen ist, geht es nun eher in Richtung 2.500 Euro“, stellt Helberg fest. Mit der höheren Rente werde im Ernstfall kein Luxusleben finanziert, sondern würden lediglich die existenziellen Kosten abgesichert. Daher sei es für bestehende Verträge sehr wichtig, dass die Dynamikangebote und Nachversicherungsgarantien genutzt würden. Eine wichtige Botschaft für Vermittler, ihre bestehenden Kunden aktiv darüber zu informieren.
Nachfrage leidet unter konjunktureller lage
Die Arbeitskraftsicherung – die sinnvollerweise bis zum Ende des Berufslebens abgeschlossen wird – leidet auch stark unter der konjunkturellen Lage, die derzeit nicht rosig ist. „Die Nachfrage nach Berufsunfähigkeitsversicherungen reduziert sich nach meiner Beobachtung schon seit dem Sommer 2024“, sagt der Versicherungsmakler Gerd Kemnitz aus Stollberg. Auch die übliche „Jahresendrallye“ habe es nicht gegeben. Die Unsicherheit bei den Berufstätigen, ihren Job verlieren zu können, reduziert nach Einschätzung des Experten, der das BU-Portal24.de betreibt, die Nachfrage nach lang laufenden Versicherungsverträgen. Da dürfte der Ansatz, die Absicherung der Arbeitskraft weg vom Königsweg BU-Schutz hin zur EU- und GF-Versicherung breiter zu beraten, nun immer wichtiger werden.
Interessant ist, dass Praktiker wie Helberg und Kemnitz übereinstimmend feststellen, dass soziale Medien bei der Kundengewinnung noch keine wesentliche Rolle spielen. Während Kemnitz viele Kunden über seinen Internetvergleich erreiche, stelle bei Helberg der aktuelle Newsletter „Helbergs Versicherungsblog“ einen Kundenmagnet dar. Zudem spielen Empfehlungen von „Altkunden“ eine große Rolle, um neue Kunden zu gewinnen, heißt es. Mehr Nachfrage könnte aber auch über die Schule kommen. „Dazu sollte im letzten Schuljahr ein Schulfach ‚Geld und Versicherungen‘ eingeführt werden, um den Umgang mit diesen Dingen zu vermitteln“, rät Kemnitz. Denn Schüler, die einen körperlich oder psychisch anstrengenden Beruf erlernen wollen, könnten sich günstige Konditionen sichern, wenn sie noch während der Schulzeit versichert werden. Doch der Versicherungsvermittler betont: „Aber meist ist das weder den betroffenen Schülern noch deren Eltern bewusst.“