Die guten Wirtschaftsdaten reißen derzeit in Europa nicht ab. Allein in der Eurozone stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von April bis Juni 2021 im Vergleich zum Vorquartal um 2 Prozent, wie das Statistikamt Eurostat veröffentlichte. Anfang des Jahres war die Konjunktur noch um 0,3 Prozent geschrumpft. Auch aus Großbritannien gibt es gute Nachrichten: Im zweiten Quartal ist das BIP im Quartalsvergleich um 4,8 Prozent gestiegen.
Damit ist mit den positiven Meldungen längst nicht Schluss. So wuchs das BIP in der Eurozone gegenüber dem zweiten Quartal 2020 um 13,6 Prozent. Dabei wurde das Wachstum insbesondere von Spanien und Italien angetrieben, deren Volkswirtschaften mit 2,8 Prozent respektive 2,7 Prozent zulegten.
Ein wenig kniffliger sieht die Lage in Deutschland aus. Die größte Volkswirtschaft innerhalb der Eurozone wuchs um lediglich 1,5 Prozent. Und das, obwohl wichtige Exportregionen, wie etwa China, einen fulminanten Jahresstart zurücklegten. Doch Deutschland hat viele Industriekonzerne. Weite Teile der Branche leiden aktuell an Lieferengpässen, so etwa an einem Chipmangel, der deutsche Automobilhersteller gerade ausbremst. Daniel Hartmann, Chefvolkswirt beim Assetmanager Bantleon, meint: „Das deutsche verarbeitende Gewerbe bietet zur Jahresmitte 2021 ein gespaltenes Bild. Während die Nachfrage nach Industriegütern hoch bleibt, fällt die Produktion immer stärker zurück.“ Dies verdeutlicht die Grafik unten: „Die Last der Lieferengpässe“
Servicesektor als Zugpferd
Überhaupt findet Bantleon-Experte Hartmann, dass der Nachfrageboom in der Industrie innerhalb der Eurozone seinen Zenit durchschritten habe. Allerdings bilde der Servicesektor ein Gegengewicht, der sich noch im Aufwind befinde: „Ganz exemplarisch spiegelte sich das in der Einkaufsmanagerumfrage – EMI – der Eurozone vom vergangenen Juli wider.“ Dieser zufolge verbesserte sich der Service-EMI von 58,3 auf 59,8 Punkte. Der Industrie-EMI gab dagegen leicht von 63,4 auf 62,8 Punkte nach. Hartmann gibt allerdings auch zu bedenken, dass der Aufholprozess im Dienstleistungsgewerbe infolge der Delta-Variante des Coronavirus nicht ganz so glatt verlaufen werde wie erwartet. „Allen voran im Reiseverkehr und bei den Freizeitaktivitäten besteht Luft nach oben. Auch in den kommenden Monaten wird sich die Pandemie dämpfend auf die Konsumnachfrage auswirken. Die Störungen könnten sich unter Umständen im Herbst nochmals intensivieren.“
Das Fazit des jüngst von Bloomberg ausgezeichneten Ökonomen fällt deshalb deutlich aus. In der Indus-trie der Eurozone zeichne sich in den kommenden Monaten eine moderate Abkühlung ab. Dem stehe eine holprige Erholung im Dienstleistungssektor gegenüber. Dies zeigt sich auch in der Grafik „Einzelhandelsumsätze in der Eurozone“. Demnach sind zwar die Online-Verkäufe stark gestiegen. Die Gesamtentwicklung in dem Sektor fällt aber weitaus verhaltener aus. „Per saldo wird sich das Expansionstempo in der Eurozone demzufolge zum Jahresende verlangsamen. Ein Rückfall Richtung Stagnation oder gar Rezession sehen wir indes nicht“, konstatiert Hartmann.
Für das Schlussquartal 2021 rechnet man bei Bantleon mit einem BIP-Zuwachs in der Eurozone von gut einem Prozent, nach 2 bis 2,5 Prozent im dritten Quartal, jeweils im Vergleich zum Vorquartal. Mit dem Abebben der Pandemie und den allmählich rückläufigen Lieferproblemen könnte der Aufschwung im kommenden Jahr nochmals kräftig Luft holen.
Beginnt die Aufholjagd?
Doch was bedeutet dieser Umstand für Europas Aktienmärkte? Vor allem der deutsche Leitindex Dax hat in diesem Jahr bereits ein gutes Stück zugelegt. Auch andere europäische Indizes konnten zu einem kräftigen Aufschwung ansetzen. Hat die lang erwartete Aufholjagd gegenüber den US-Indizes damit eingesetzt? Arnaud d’Aligny, Portfoliomanager European Equities bei Lombard Odier Investment Managers (LOIM), wirft in diesem Zusammenhang einen Blick auf die jüngsten Marktbewertungen. Er sagt, europäische Aktien werden mit einem 12-Monats-Kurs-Gewinn-Verhältnis von 16 im Vergleich zu 22 bei US-Aktien gehandelt (basierend auf Konsenserwartungen von Mitte August 2021 für den Stoxx Europe 600, beziehungsweise den S&P 500-Index). D’Aligny meint, der Bewertungsabschlag europäischer Aktien gegenüber US-Aktien lag zu diesem Zeitpunkt mit rund 25 Prozent sogar deutlich über dem langfristigen historischen Durchschnitt seit 2005 von 16 Prozent.
Verständlich, wenn der LOIM-Experte meint, dass europäische Aktien derzeit besonders attraktiv seien, „da sie im Vergleich zu US-Aktien auf einem attraktiven Bewertungsniveau gehandelt werden und eine stärkere Gewinnerholung zu erwarten ist“. Zwar hätten europäische Aktien seit Jahresbeginn eine starke Performance erzielt. Die Bewertungen seien aber gesunken, da die Gewinnrevisionen so stark wie seit 20 Jahren nicht mehr waren. Viele europäische Unternehmen sind dabei stärker international ausgerichtet, da sie insgesamt 57 Prozent ihres Umsatzes außerhalb Europas erwirtschaften.
D’Aligny meint, sie könnten deshalb global als auch regional von der anhaltenden Konjunkturerholung besonders profitieren. „Seit Jahresbeginn sind die Investitionen globaler Anleger in europäische Aktien stark und aus allen Regionen gleichmäßig gestiegen. Es ist zu erwarten, dass diese positiven Ströme anhalten werden, da die Nachfrage der Anleger nach europäischen Aktien in den vergangenen Jahren schwach war und der jüngste Aufschwung nur einen kleinen Teil der Abflüsse wieder auffängt.“
Dabei gebe es in Europa eine Reihe weltweit führender Unternehmen in verschiedenen Sektoren, zu denen d’Aligny das Gesundheitswesen, Konsumgüter, Dienstleistungen, aber auch den Industriesektor und die Technologiebranche zählt. Zu finden sind solche Unternehmen sowohl im Segment der Large Caps als auch der Small und Mid Caps, wie er sagt. „Darüber hinaus steht Europa eindeutig an der Spitze der „grünen“ Transformation – auf unternehmerischer, politischer und regulatorischer Ebene – und die Aktienmärkte umfassen einige der führenden Innovatoren und Akteure in den laufenden Übergängen zur Nachhaltigkeit.“
Europas Chancen sind vielfältig
Zudem hat sich die europäische Aktienlandschaft gewandelt und wird immer wachstumsstärker, „wobei der Technologiesektor nun die gleiche Größe wie die Banken und der Luxusgütersektor die gleiche Größe wie der Energiesektor hat“, so der erfahrene LOIM-Experte. Dies ist insofern eine signifikante Entwicklung, da es vor allem die etablierten Technologie-konzerne aus den USA sind, die in den vergangenen Jahren für die kräftigen Wertzuwächse der Indizes jenseits des Atlantiks sorgten. Ein zunehmend bedeutender Technologiesektor in Europa ist deshalb auch ein wichtiger Treiber der Aufholjagd. Eine Welt ohne digitalen Fortschritt ist schließlich kaum noch vorstellbar.
Umso interessanter ist der breit gefächerte Blick auf Europas Top-Aktienfonds, die in die gesamte Palette von Großkonzernen bis hin zu erfolgreichen Kleinunternehmen investieren. Ein Fonds, der mit seiner Wertentwicklung offenbar besonders überzeugen konnte, ist der BlackRock Strategic Funds – European Opportunities Extension Fund. Denn für Neuzuflüsse ist er derzeit geschlossen. Ein Blick auf das Erfolgsrezept lohnt sich dennoch. Besonders hoch gewichtet sind derzeit dänische Aktien mit rund 25 Prozent, so hoch wie in keinem anderen Europa-Fonds.
Investiert wird etwa in innovative Gesundheitsaktien aus der Region, zu denen Novo Nordisk zählt. Das Unternehmen ist vor allem für seine Diabetes-Therapien bekannt. Die Krankheit breitet sich angesichts schlechter Ernährungsgewohnheiten und einem wachsenden Bewegungsmangel weltweit aus. Das dänische Transport- und Logistikunternehmen DSV zählt ebenso zu den Top-Holdings wie auch Royal Unibrew, Dänemarks zweitgrößte Brauereigesellschaft.
Beim Comgest-Fonds sowie dem Fidecum SICAV – avant-garde Stock Fund liegt ein großer Fokus bei der Titelwahl vor allem auf qualitativem Wachstum, wie es heißt, und das freilich zu einem vernünftigen Bewertungsniveau. Comgest-Manager Franz Weis sagt: „Die stärkere Betonung auf das Gewinnwachstum und eine etwas opportunistischere Anwendung des Qualitäts-Wachstums-Ansatzes führen dazu, teils früher am starken Wachstum vielversprechender Unternehmen teilzunehmen.“ Und wie wirken sich die steigenden Rohstoffpreise und die damit einhergehende Inflation auf das Portfolio aus? „Unsere Unternehmen haben eine hohe Preissetzungsmacht und verfügen über solide Bilanzen“, lässt sich Weis von dieser Entwicklung nicht beirren.
Hohe Ertragskraft im Fokus
Der Comgest-Fondsmanager verweist als Beispiel auf den Schweizer Spezialchemiehersteller Sika, sowie den irischen Baustoffproduzenten Kingspan. Beide könnten steigende Kosten an Kunden weiterleiten. Obendrein hätten zahlreiche Portfoliotitel mit einer durchschnittlichen EBIT-Marge von rund 14,5 Prozent reichlich Spielraum bei der Gewinnspanne.
Größte Branchengewichtung entfällt aufgrund der Einzeltitelselektion derzeit auf den Gesundheitsbereich (23,8 Prozent), gefolgt vom IT-Sektor. Immerhin entfällt die größte Einzelgewichtung auf ASML. Der niederländische Konzern stellt Lithographiesysteme her, wobei die Maschinen für die Halbleiterproduktion gebraucht werden. „Das Unternehmen hat praktisch ein Monopol in diesem Bereich“, schwärmt Weis von der Marktdominanz und Innovationskraft des Unternehmens.
Sie stehen auch bei Fidecum stark im Fokus. Fondsmanager Anko Beldsnij-der sagt in diesem Zusammenhang: „Unabhängig von der zyklischen Entwicklung der Wirtschaft sehen wir uns mit unserem Fokus auf strukturell wachsende Unternehmen gut positioniert.“ Die Lockdowns aus 2020 hätten bestehende strukturelle Trends noch verstärkt. Das ist ein Grund, weshalb Beldsnijder neue mögliche Corona-Maßnahmen im Herbst nicht überbewerten will. Im Portfolio würde man bei neuerlichen Shutdowns wenig ändern.
Wo aber liegen aktuelle Schwerpunkte? Die größte Branchengewichtung entfällt aufgrund der Titelselektion derzeit auf die Industrie, regional auf die Niederlande, gefolgt von Schweden und Dänemark. Dazu zählen ebenfalls ASML, sowie der Anlagenbauer ASM International. Beldsnijder sagt zudem: „Im Industriesektor finden wir besonders viele Unternehmen, denen es aufgrund von Innovationen gelingt, strukturell stärker zu wachsen als ihre Wettbewerber. Deren Wachstum ist insbesondere von den Themen Energieeffizienz, Umwelttechnologie oder Automatisierung und Digitalisierung der Industrie getrieben.“
Als Beispiel verweist der erfahrene Marktexperte auf die französische Teleperformance. Einst war das Unternehmen ein Call-Center-Anbieter mit niedrigen Margen. Durch Investitionen in IT und den Erfolg von Online-Einzelhändlern sei es nun ein wichtiges Bindeglied zwischen Markenherstellern und Konsumenten geworden.
Auch kleine Titel haben Potential
Doch welche Rolle spielen bei der Suche nach Wachstumschancen eigentlich kleinere Unternehmen aus Europa? In der Vergangenheit habe sich das Fidecum-Portfolio aus Blue-Chips unter Beimischung größerer und kleinerer Nebenwerte zusammengesetzt, zeigt Beldsnijder auf. Er meint, dass sich „daran in Zukunft nichts ändern wird, man die Titelselektion vor gut zwei Jahren allerdings um ein Gewichtungsmodell optimiert habe.“ Dies ermögliche es, auch an der schwungvollen Entwicklung kleinerer sogenannter ‚Disrupter‘ – mit überschaubarem Risiko – zu partizipieren. Damit wurden zugleich die Zahl der Aktien im Fonds erhöht, das Risiko somit breiter gestreut. „So konnten wir trotz sinkender Volatilität die Rendite des Portfolios verbessern.“
Einen anderen Zugang hat man beim Nordea 1 – European Small and Mid Cap Equity Fund gewählt, wie bereits der Produktname unterstreicht. „Wir investieren nicht per se in sogenannte Large Caps. Allerdings gibt es kleinere Firmen, die mit der Zeit kräftig wachsen. Solange ihr Geschäftsmodell überzeugt, bleiben wir investiert“, zeigt Co-Portfoliomanager Jesper Gulstad auf. Er managt den Fonds gemeinsam mit Samuli Outinen.
Wo aber werden die zwei Nordea-Experten bei ihrer Titelselektion derzeit fündig? Knapp mehr als ein Drittel des Fondsvermögens ist in Industrietitel investiert, gefolgt vom Finanzwesen. Regional nehmen Großbritannien und Italien die größte Gewichtung ein, immerhin mit Finanztiteln wie dem britischen Vermögensverwalter St. James’s Place, sowie den italienischen Banken Mediobanca und Fineco Bank. Bei der Wahl der Finanztitel liege der Fokus dabei weniger auf dem traditionellen Bankgeschäft, wie es heißt. Vielmehr werde der Schwerpunkt auf einzelne Marktsegmente wie zum Beispiel das Geschäft mit der Vermögensverwaltung, der Versicherung und dem digitalen Bankgeschäft gelegt.
Finanzwerte sind gefragt
Auffällig hoch ist der Anteil der Finanzwerte auch im MainFirst Top European Ideas. Die Branche ist derzeit mit rund 30 Prozent gewichtet, etwa mit der österreichischen Bawag sowie der Deutschen Pfandbriefbank. Sie wurde aus den überlebensfähigen Teilen der in der Finanzkrise des Jahres 2008 mit Milliardenbeträgen gestützten Hypo Real Estate ins Leben gerufen. Mitte August 2021 gab zudem der Finanzmarktstabilisierungsfonds bekannt, die verbleibenden 3,5 Prozent an dem Finanzhaus zu verkaufen.
Freilich, viele Banken profitieren auch vom aktuellen Zinsumfeld. Die Renditen für längere Laufzeiten sind zuletzt gestiegen, während die Zinsen am kurzen Ende auf historischen Tiefs verharren. Damit verdienen die Banken eine umso höhere Zinsmarge zwischen fix verzinsten Krediten mit längeren Laufzeiten und kurzfristigen Einlagen, auf die teils sogar schon Strafzinsen erhoben werden.
Konsumwerte im Blickfeld
Im Lombard Odier Funds – Europe High Conviction Fonds lag zuletzt ein besonders hohes Augenmerk auf dem Konsumsektor. Der Bereich konnte zuletzt von dem schrittweisen Abbau vieler Lockdowns profitieren. Zu den größten Positionen zählten zuletzt die Aktien von Swedish Match. Der Konzern stellt unter anderem rauchfreie Tabakprodukte und Streichhölzer her. Auch der Konsumgüterkonzern Beiersdorf ist Teil des Fonds. Auffällig hoch gewichtet sind aber auch Chemietitel, wie etwa der Industriegase-hersteller Air Liquide. Der Konzern mischt inzwischen am zukunftsträchtigen Markt für grünen Wasserstoff kräftig mit.
Im JO-Hambro-Fonds nimmt der Konsumsektor ebenfalls eine hohe Gewichtung ein, gefolgt von der Kommunikationsbranche. Auffällig hoch war bei diesem Fonds zuletzt obendrein die 22-prozentige regionale Gewichtung mit deutschen Aktien, und zwar sowohl jene mit einer kleineren als auch einen größeren Marktkapitalisierung. So zählt etwa der Internetdienstleister United Internet genauso zu den größten Positionen wie der Automobilzulieferer Continental.
Trotz der insgesamt positiven Aussichten sollten Anleger mögliche Risiken im Auge behalten. Dazu zählen anhaltende Lieferengpässe. Eine stärkere Ausbreitung der Delta-Variante könnte zu neuen Lockdowns führen. Das würde vermutlich die stärker zyklisch ausgerichtete europäische Industrie härter treffen als jene in den USA, wo die digitale Wirtschaft weitaus etablierter ist. Zu guter Letzt müssen Anleger eventuelle Währungsschwankungen beachten. Schließlich investieren die Fonds auch außerhalb der Eurozone.