„Politische Börsen haben kurze Beine“ ist eine bekannte Börsenweisheit. Der Healthcare & Pharma-Sektor ist hierbei aber eine Ausnahme: In diesem sehr heterogenen Sektor, der vom klassischen Pharmaunternehmen über Hersteller von Diagnostikgeräten bis zu Kontaktlinsen- und Brillenfertigern reicht, spielen politische Entscheidungen eine wesentliche Rolle, betont Sebastian Hofbeck, Analyst für den Sektor Healthcare bei der DJE Kapital AG, in seinem Kommentar. Aktuell gilt dies besonders für den weltweit wichtigsten Markt, die USA. Im Zentrum der Diskussion: der Inflation Reduction Act (IRA).
FREIE PREISGESTALTUNG: AUCH IN DEN USA BALD GESCHICHTE?
Eine große Ausnahme bei der Preisgestaltung von Medikamenten waren bislang die USA, zugleich der größte und wichtigste Markt für die globale Pharmaindustrie. So machten die USA im Jahr 2022 bei Eli Lilly 64 Prozent des Umsatzes, bei Roche 51 Prozent des Umsatzes der Pharmasparte und bei Merck & Co. 46 Prozent des Umsatzes aus. Laut einer Untersuchung des Ministeriums für Gesundheitspflege und Soziale Dienste (HHS) in den USA, das 27 Medikamente in 16 entwickelten Ländern verglichen hat, waren die Kosten für die Medikamentenbeschaffung in den USA 80 Prozent höher als im Durchschnitt der Vergleichsländer. Laut einer Studie der RAND Corporation aus dem Januar 2021 lag der Preis für Markenarzneimittel in den USA sogar 344 Prozent höher als in anderen OECD-Ländern. Änderungen auf diesem wichtigsten Markt sind daher auch für Anlegerinnen und Anleger in Unternehmen aus diesem Sektor relevant.
Im August 2022 unterzeichnete US-Präsident Joe Biden den IRA. Ziel des IRAs war und ist es, der hohen Inflation in den USA entgegenzuwirken, den Klimaschutz voranzutreiben und die Belastungen durch Gesundheitskosten zu senken. Insgesamt sollen laut Vorhersagen des Congressional Budget Offices mit Hilfe des IRAs in den kommenden zehn Jahren über 287 Milliarden US-Dollar eingespart werden, davon etwa 31 Milliarden US-Dollar im Gesundheitsbereich bis zum Jahr 2031. Der Fokus wird dabei auf Änderungen im Bereich Medicare liegen, einem staatlichen Krankenversicherungsprogramm für US-Bürger, die mindestens 65 Jahre alt sind, eine anerkannte Behinderung haben oder an einer schweren Nierenerkrankung im Endstadium leiden. 2021 machten die Ausgaben für Medicare knapp 900 Milliarden US-Dollar aus und entsprachen damit knapp 21 Prozent der US-Gesundheitsausgaben. Der IRA hat dabei drei Kernabsichten für den Bereich Medicare: Deckelung des Preisanstiegs von Arzneimitteln, Begrenzung der maximalen Zuzahlung für Arzneimittel und die Ermöglichung von Preisverhandlungen.
Um die Preise für Arzneimittel für Medicare-Versicherte nicht ausufern zu lassen, sollen in Zukunft Preissteigerungen für Arzneimittel aus dem Bereich Medicare auf die Inflationsrate begrenzt werden. Sollten Pharmaunternehmen die Preise der Arzneimittel dennoch um einen höheren Wert als die Inflation steigern, müssen sie die zusätzlich erzielten Einnahmen als Rabatt an die Regierung zurückzahlen. Aktuell geht man davon aus, dass diese Gesetzesänderung nur geringfügig negative Auswirkungen auf die Pharmaunternehmen haben wird. Möglich wäre auch, dass die Unternehmen bereits mit höheren Preisen starten, um den negativen Effekt abzufedern. Zudem sollen Pharmaunternehmen im gesamten Prozess an den Kosten beteiligt werden. Dies wird dazu führen, dass Pharmaunternehmen einen stärkeren Beitrag leisten müssen. Nimmt man beispielsweise ein Medikament, das 100.000 US-Dollar im Jahr kostet, steigt der Beitrag des Pharmaunternehmens von 4.315 auf 19.311 US-Dollar.
PREISVERHANDLUNGEN SIND UMSTRITTEN
Teil des IRAs ist es auch, direkte Preisverhandlungen mit den Pharmaunternehmen zu führen. Der Begriff „Preisverhandlungen“ ist allerdings irreführend. Die aktuelle Vorlage sieht vor, dass es automatische Preisreduktionen für ausgewählte verschreibungspflichtige Arzneimittel geben wird, denen die Pharmaunternehmen im Anschluss zustimmen müssen, sonst würden erhebliche Strafen drohen.
Ausgewählt werden dabei die am meisten verkauften Arzneimittel, die zum Zeitpunkt der Preisreduktion vor mindestens neun Jahren („small-molecules drugs“) beziehungsweise 13 Jahren („biologics“) von der US-Arzneimittelbehörde (FDA) zugelassen wurden und von denen noch keine Generika beziehungsweise Biosimilars erhältlich sind. Für die ausgewählten Arzneimittel sieht das Gesetz eine Preisreduktion von 25 bis 60 Prozent vor, je nachdem wie viele Jahre seit der Zulassung durch die FDA vergangen sind.
Ende August 2023 wurden die ersten zehn Arzneimittel benannt, mit denen das staatliche Center for Medicare & Medicaid jetzt in die Preisverhandlungen gehen wird und die ab 2026 von der Preisreduktion betroffen sein werden. Unter den ersten ausgewählten Medikamenten befinden sich unter anderem Entresto, ein Arzneimittel gegen Herzinsuffizienz von Novartis, Eliquis, ein Medikament von Bristol-Myers Squibb, das zur Proxylaxe von Thrombosen und Schlaganfällen eingesetzt wird, sowie Imbruvica, AbbVies Medikament für die Behandlung von Brustkrebs.
In den nächsten Jahren wird die Anzahl an Medikamenten, die für die Preisverhandlungen ausgewählt werden, immer weiter steigen. Da sich die Auswahl der Arzneimittel am Umsatz orientiert, sind vor allem große Pharmaunternehmen betroffen. Einige von ihnen, unter anderem AstraZeneca, Merck & Co. sowie Novartis haben inzwischen Klage gegen das Gesetz eingereicht. Novartis ließ hierzu verlauten, dass die Bestimmungen zur Festlegung der Arzneimittelpreise einen verfassungswidrigen Eingriff in das Privateigentum der Pharmahersteller darstellen. Ob und inwieweit solche Klagen Erfolg haben können, bleibt abzuwarten.
Seit das Gesetzespaket vorgestellt wurde, gibt es viele Diskussionen über die kurz- und langfristigen Auswirkungen auf die Pharmaindustrie. Betrachtet man die Liste der ersten zur Verhandlung ausgewählten Arzneimittel, scheinen die Auswirkungen für die Unternehmen überschaubar. Einige der Arzneimittel erwirtschaften nur einen geringen Anteil am Gesamtgewinn und sind deshalb für das Unternehmen sowie für die Investoren eher zweitrangig. Ein Beispiel hierfür sind Novo Nordisks Aspart Insulin-Marken, die 2026 noch einen geringen Umsatzanteil ausmachen werden. Zudem achten Investoren bei Novo Nordisk aktuell viel stärker auf die Entwicklung der Medikamente zur Behandlung von Fettleibigkeit. Andere Medikamente werden bis 2026 den Patentschutz verloren haben, weshalb ohnehin mit zurückgehenden Umsätzen durch Konkurrenz aus Nachahmerprodukten gerechnet werden kann.
Ein Beispiel hierfür ist Entresto von Novartis. Novartis selbst erwartet aktuell einen Ablauf des Patentschutzes von Entresto im Jahr 2025, weshalb eine Preisreduktion in 2026 geringere Auswirkungen haben könnte. Aktuell ist auch noch unklar, wie die neuen Regelungen interagieren werden. Darüber hinaus zeichnet sich eine Veränderung bei der Forschung ab. Es ist zu erwarten, dass mehr Forschung in Richtung „Biologics“, das heißt biotechnologisch hergestellte Arzneimittel, gehen wird, da diese länger vor Preisverhandlungen geschützt sind. Zudem wird erwartet, dass Unternehmen mehr Geld in die Entwicklung der Arzneimittel stecken müssen, damit diese schneller für verschiedene Indikationen zugelassen werden können, bevor sie von den Preisverhandlungen für eine Indikation betroffen sind.
Das größte Risiko besteht allerdings darin, dass mit der Regulierung des Medicare-Versicherungsbereiches die Büchse der Pandora geöffnet wurde. Ein potentieller Spillover-Effekt auf andere Krankenversicherungsbereiche ist nicht ausgeschlossen. So könnte die Regulierung auf den privaten Krankenversicherungssektor in den USA ausgeweitet werden. Die Mehrzahl der Einwohner in den USA ist über solch eine private Krankenversicherung über den Arbeitgeber versichert. Sollte sich die Regulierung auf diesen Bereich ausweiten, hätte das noch deutlich gravierendere Auswirkungen auf den Sektor.
US-WAHLEN UND DER GESUNDHEITSSTEKTOR
Zusätzliche Unsicherheit für den Sektor kommt aus der anstehenden US-Präsidentschaftswahl. In den vergangenen Wahlkämpfen gab es viele Ankündigungen und Vorschläge, wie man das Gesundheitswesen reformieren könne, um die Kosten für Versicherte zu senken und damit die Gewinne der Pharmaunternehmen zu schmälern. Das erzeugt Unsicherheit bei Investoren und ist somit schlecht für die Performance des gesamten Pharma-Sektors. Schaut man sich die letzten fünf Wahlkampfzyklen inklusive der Vorwahlkämpfe an, blieb die Performance des Pharma-Sektors deutlich hinter der Performance des breiten Marktes zurück. Inwieweit das in diesem Wahlkampfzyklus zutreffen wird, bleibt abzuwarten, da mit dem IRA bereits einige Gesetze in Kraft getreten sind.
Für Anlegerinnen und Anleger kann der Pharmasektor viele Chancen bieten; die steigende politische Einflussnahme auch im größten Markt USA und deren Auswirkungen auf die Unternehmen sollte man aber dauerhaft im Blick behalten.