Die US-Wirtschaft hat in jüngster Zeit eine günstige Kombination aus stetigem Wachstum und nachlassender Inflation erlebt, eine Art erneutes „Goldlöckchen Szenario“, betont Daniel Morris, Chief Market Strategist bei BNP Paribas Asset Management. Die volatilen Wirtschaftsdaten seit der Coronapandemie deuten jedoch darauf hin, dass dies wahrscheinlich nicht anhalten wird. In den kommenden Quartalen dürfte sich das Wachstum abschwächen, während die Kerninflation vergleichsweise hoch bleibt.
Die jüngsten Daten zur Verbraucherpreisinflation in den USA waren sowohl für die Anleger als auch für die US-Notenbank (Fed) zunächst eine willkommene Nachricht. Nach einem unerwartet starken Anstieg der Preise in den ersten Monaten des Jahres sank die Inflationsrate im Mai auf 0,2 Prozent (zwei Prozent annualisiert) und lag damit 0,1 Prozentpunkte unter dem Aprilwert und der Konsensprognose. Erfreulicherweise ist diese Entwicklung nicht nur auf einzelne Bereiche zurückzuführen, sondern beruht vielmehr auf einer breiten Basis. Die Kerninflation bei Waren war negativ, während die Kerninflation bei Dienstleistungen ohne Wohnraumkosten weiter zurück ging und ebenfalls negativ ausfiel.
WACHSTUM UND INFLATION
Diese Verlangsamung der Inflation ging mit einem breiten, positiven Wirtschaftswachstum einher. Der globale S&P-Einkaufsmanagerindex für den Dienstleistungssektor stieg im Mai sprunghaft an. Die US-Beschäftigungszahlen außerhalb der Landwirtschaft liegen dabei über den Prognosen. Die saisonbereinigte monatliche Zahl neuer Stellen stieg auf 229.000, während nur 165.000 erwartet worden waren und im Vormonat lediglich 158.000 neue Stellen geschaffen werden konnten.
Die hohe Inflation zu Beginn des Jahres hat die Fed jedoch dazu veranlasst, die Zahl der für dieses Jahr erwarteten Zinssenkungen von drei auf eine zu reduzieren und sich damit den Marktschätzungen anzupassen. Anfang des Jahres wurde noch von der Fed erwartet, mit sieben Zinssenkungen für niedrigere Zinsen zu sorgen. Dass die Fed diese Erwartungen nun nicht erfüllt, beeinflusste die Aktienmärkte jedoch kaum. Da der Grund für die geringeren Zinssenkungen das stärker als erwartete Wachstum ist, erfreuen sich die Märkte an einem Gewinnschub durch eine stärkere Wirtschaft, auch wenn dies auf Kosten eines höheren Diskontsatzes geht.
Der amerikanische Arbeitsmarkt ist das Hauptrisiko, aufgrund dessen die Inflation nicht zurückgehen könnte. Die Arbeitslosenquote in den USA ist im Mai leicht von 3,9 auf 4,0 Prozent gestiegen, liegt aber immer noch unter der langfristigen Durchschnittsquote von 4,2 Prozent. Bemerkenswert ist, dass die durchschnittliche Erhöhung der Stundenlöhne von 4,0 auf 4,1 Prozent gestiegen ist – der erste Anstieg innerhalb von drei Monaten. Die Arbeitslosigkeit im Euroraum ist historisch niedrig, während die individuellen Löhne gestiegen sind. Da sich das kräftige Lohnwachstum letztlich in der Dienstleistungsinflation niederschlägt, könnte ein Anstieg der Arbeitslosenquote erforderlich sein, bevor die Inflation zurückgeht.
Laut aktuellen Projektionen der Fed wird wahrscheinlich nur noch einer von drei Zinsschritten stattfinden. Die Verbraucherpreisindex-Zahlen vom Mai haben die Einschätzung der Fed, dass die Inflation nur langsam in Richtung ihres Zwei-Prozent-Ziels zusteuert, nicht wesentlich verändert. Eine maßgebliche Entscheidung könnte im September getroffen werden, falls die Inflation niedrig bleibt oder sinkt und so eine erste Zinssenkung rechtfertigt. Bis zu diesem Zeitpunkt könnten jedoch eher politische Erwägungen den Ausschlag geben. Eine Zinssenkung so kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen könnte von einigen Kreisen als Einmischung in die Wahl angesehen werden. Auf jeden Fall könnte ein Wahlsieg Trumps im November eine Rücknahme der Zinssenkung erforderlich machen.
Die Wachstumsdynamik im Euroraum ist ähnlich. Die Einkaufsmanagerindizes zeigen, dass der Dienstleistungssektor stark bleibt und sich die Aussichten für das verarbeitende Gewerbe verbessern. Während die Kerninflation in den USA zurückgegangen ist, stieg sie in der Eurozone von 2,7 auf 2,9 Prozent an, getrieben durch die Inflation im Dienstleistungssektor. Dennoch führte die Europäische Zentralbank (EZB) die angekündigte Senkung der Leitzinsen um 25 Basispunkte durch. Die Entscheidung von Präsidentin Lagarde, keine weiteren Senkungen zu bestätigen, bedeutet, dass die EZB höhere Zinsen in Kauf nehmen könnte, um die Inflation unter Kontrolle zu halten. Dennoch bleibt die EZB nach wie vor in hohem Maße datenabhängig.
AKTIENMÄRKTE UNBEEINDRUCKT
Die Aktienmärkte wurden offenbar weder durch das erhöhte Wachstum noch durch die stärker als erwartete Inflation beunruhigt. Aufgrund des günstigen makroökonomischen Umfeldes stiegen die meisten wichtigen Indizes weiter. Die Märkte warten weiterhin darauf, wann und in welchem Umfang die Fed die Zinsen in diesem Jahr senken wird. Die Aussichten auf eine Erhöhung der Leitzinsen sind derzeit gering. Wenn die Realzinsen stabil bleiben und nicht ansteigen, hängen die Aussichten für Aktien, insbesondere bei den Wachstumstiteln, eher von den Gewinnaussichten ab. Die Prognosen der Analysten sind hier optimistisch.
Die Märkte, in denen sich die Gewinnprognosen im vergangenen Monat am stärksten verändert haben, sind Europa und China. Die steigenden Gewinnschätzungen für die Eurozone sind leicht erklärbar, da sich die Region von der Verlangsamung der Wirtschaft im Jahr 2023 erholt und die EZB die Leitzinsen gesenkt hat. Unterstützt durch einen starken Dollar wird das US-Wachstum auch die europäischen Exporte ankurbeln.
Die größte Sorge auf dem Markt ist die schwache Binnennachfrage der Verbraucher. Trotz der niedrigen Arbeitslosenquote und steigender Löhne und Gehälter waren die Einzelhandelsumsätze in der Eurozone enttäuschend. Ein Teil des Lohnzuwachses ist auf einmalige Bonuszahlungen wie beispielsweise in Deutschland zurückzuführen, und es könnte sein, dass die Verbraucher das zusätzliche Geld lieber gespart haben, als mehr auszugeben.
Die Gewinnerwartungen für chinesische Aktien sind ebenfalls gestiegen. Es liegt nahe, dass die jüngsten Kursgewinne bei chinesischen Aktien auf diesen höheren Gewinnerwartungen basieren und es sich nicht einfach nur um eine Erholung von den zuvor außergewöhnlich niedrigen Bewertungen handelt. Leider sind die Gewinnerwartungen pro Aktie (EPS) bei den meisten Titeln im MSCI China Index nicht gestiegen. Lediglich zwei Unternehmen – PDD, das unter dem Namen Temu gehandelte E-Commerce-Holding, und der Multimedia-Mischkonzern Tencent – verzeichneten Zuwächse.
KI-BOOM IN ASIEN
Als Alternative zu China und als weitere Chance, von den KI-Investitionen zu profitieren, bieten sich Südkorea und Taiwan an. Wir bevorzugen jedoch südkoreanische Aktien; der taiwanesische Markt hat sich sowohl in diesem als auch im vergangenen Jahr bereits gut entwickelt (und trotz anhaltender geopolitischer Risiken zugelegt). Die Bewertungen sehen jedoch für den südkoreanischen Markt attraktiver aus (der Altman Z-Score für das zukünftige Kurs-Gewinn-Verhältnis beträgt 1,4 für den MSCI Taiwan Index gegenüber nur 0,3 für Südkorea), und die Gewinnerwartungen steigen dort schneller. Südkorea ist auch stärker von einer Neubewertung des Speicherchip-Zyklus betroffen. Die Preise für Speicherchips waren rückläufig, beginnen sich jetzt aber zu erholen, was zum großen Teil auf die Nachfrage nach DRAM-Chips zurückzuführen ist, die in KI-Servern verwendet werden. Südkorea ist in der Regel auch ein Nutznießer eines potenziellen Aufschwungs im globalen Produktionszyklus; dies könnte insbesondere jetzt der Fall sein, wo die Lagerbestände niedrig sind.
Während die Gewinnerwartungen für den MSCI Japan Index weiter gestiegen sind, hat der Markt die Unterstützung durch eine schwächere Währung verloren. Mit den Leitzinsen endlich im positiven Bereich und den Interventionen der Bank of Japan am Markt hat sich der USD-JPY-Wechselkurs bei rund 156 Yen pro Dollar stabilisiert. Die relative Performance des MSCI Japan ist seither rückläufig. Weitere Sorgen bereiten dem Markt das stagnierende Lohn- und Konsumwachstum in Japan, die rückläufige Inflation, das gesunkene Verbrauchervertrauen und das nach wie vor geringe Vertrauen der Unternehmen. Trotzdem scheinen Renditeaussichten auch weiterhin günstig.
Seit April schwankt die Notierung des Edelmetalls zwischen 2.300 und 2.400 US-Dollar pro Unze und die Fundamentaldaten für Gold sind weiterhin gut. In einer zunehmend multipolaren Welt ist die Goldnachfrage der Zentralbanken ungebrochen und Anleger sehen Gold als Absicherung gegen geopolitische Risiken und Inflation. Auf kurze Sicht dürfte auch die Erholung der Industrie den Goldpreis stützen.