Startseite » Investmentfonds » Aktien » Halbleiterindustrie in der Krise

Halbleiterindustrie in der Krise

Mai 2022
Pieran Maru, Investment Analyst bei GAM Investments, verweist auf aktuelle Engpässe in der Chipindustrie, glaubt aber dennoch an eine Trendwende.
GAM
Pieran Maru, GAM

Halbleiter sorgten bereits 2020 aufgrund der Unterbrechung der weltweiten Lieferketten für Schlagzeilen. Auch zwei Jahre später bestehen in zahlreichen Branchen Engpässe – und die erwartete Normalisierung wird sich voraussichtlich bis ins Jahr 2023 hinziehen. Pieran Maru, Investment Analyst im Disruptive Growth & Technology Team von GAM Investments, untersucht die Ursachen, die am stärksten betroffenen Branchen und einen möglichen Weg zur Normalisierung der Versorgung.

Was war die ursprüngliche Ursache für die Halbleiterknappheit? Ein klassisches Missverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage im Halbleiterzyklus, das durch eine Pandemie ausgelöst wurde. Im Vorfeld des Jahres 2020 kam es zu zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China, da mehrere chinesische Unternehmen auf die “US Entity List” (Einträge zu Personen und Unternehmen, bei denen Genehmigungspflichten für bestimmte Güter bestehen, die den Exportkontrollregeln unterliegen) gesetzt wurden.

Im März 2020 kam es zu einem unerwarteten Nachfrageanstieg nach Artikeln der Konsumgüterelektronik, da zahlreiche Unternehmen auf Telearbeit umstellten. Die Nachfrage wurde darüber hinaus durch den zunehmenden Aufbau von Lagerbeständen aufgrund der anhaltenden geopolitischen Risiken angetrieben, während mehrere unvorhersehbare Ausfälle aufgrund von “Lockdowns” das Angebot weiter verknappten. Jüngsten Schätzungen zufolge belaufen sich die Kosten der chinesischen Null-Covid-Politik auf rund 46 Milliarden US-Dollar pro Monat (3,1 Prozent des BIP), während Brian Deese, Direktor des Nationalen Wirtschaftsrats der USA, schätzt, dass die Halbleiterknappheit „vermutlich einen ganzen Prozentpunkt des BIP im Jahr 2021 gekostet hat“.

Automobilindustrie besonders stark betroffen

Eine Branche, die stark von den Lieferengpässen betroffen ist, ist die Automobilindustrie. Es zeigt sich, dass dieses Ungleichgewicht unmittelbare Auswirkungen auf den Gebrauchtwagenmarkt hat, da eine Reihe von Autos aktuell mit einem Aufschlag auf den Listenpreis verkauft werden. Halbleiter sind für die Produktion moderner Autos unerlässlich – von fortschrittlichen Fahrassistenzsystemen bis hin zu Bremssystemen. Fehlen diese, kann die Produktion schnell zum Erliegen kommen. Zu den jüngsten Beispielen in diesem Quartal zählen die zweiwöchige Schließung des Mini-Werks aufgrund von Engpässen und die vorübergehende Schließung des Tesla-Werks in Shanghai während eines örtlichen “Lockdowns” zur Einhaltung regionaler behördlicher Anordnungen.

Neon-Knappheit sollte sich nicht auf Halbleiter-Produktion auswirken

Neon ist ein wichtiges Edelgas, das für Excimer-Laser als Teil des Lithografieprozesses bei der Herstellung von Halbleitern verwendet wird. Neon ist zu ~0,0018 Prozent in der Atmosphäre vertreten und wird als Nebenprodukt vor allem in der Stahlindustrie mit Hilfe einer Luftabscheidungsanlage (ASU) isoliert. Weltweit existieren ca. 28 große ASUs mit etwa zehn Standorten rund um den Globus, die das Rohgemisch reinigen können. Da zwei der führenden Neonlieferanten mit Sitz in der Ukraine ihre Produktion eingestellt haben, werden die Auswirkungen auf die weltweite Versorgung auf 30 Prozent geschätzt. Nach unserer Ansicht wird sich dies derzeit nicht wesentlich auf die Halbleiterknappheit auswirken, da die Unternehmen bei einer Reihe von globalen Lieferanten strategische Vorräte angelegt haben und ihre Beschaffung seit dem Jahr 2014 weiter diversifizieren konnten. Angesichts des deutlichen Anstiegs der Neonpreise gehen wir davon aus, dass zusätzliche ASUs gebaut werden und bis Ende des Jahres eine Normalisierung eintreten wird.

Ist ein Gleichgewicht in Sicht?

Der US-Senat hat vor Kurzem einen geänderten Gesetzentwurf gebilligt, mit dem 52 Milliarden US-Dollar für die US-Halbleiterchips bereitgestellt werden sollen und der sich derzeit in der Phase der „Beilegung von Differenzen“ des Gesetzgebungsverfahrens befindet. Dies würde es den Herstellern ermöglichen, die Abhängigkeit von Lieferketten aus anderen Ländern zu verringern und die heimische Halbleiterproduktion, Forschung und Entwicklung zu unterstützen. Aus europäischer Sicht kündigte die Europäische Kommission einen Rahmen von Maßnahmen zur Stärkung ihrer Halbleiter-Infrastruktur an, die 15 Milliarden Euro zu den bereits geplanten 30 Milliarden Euro hinzufügen werden. Die Präsidentin der EU-Kommission von der Leyen hob in ihrer Erklärung vom 8. Februar zwei Hauptziele hervor: Erstens soll die Widerstandsfähigkeit gegen zukünftige Krisen erhöht werden, und zweitens soll Europa eine Führungsrolle übernehmen und bis 2030 einen Anteil von 20 Prozent an der Weltmarktproduktion von Chips erreichen (derzeit 9 Prozent). Dies würde eine geschätzte Vervierfachung der Anstrengungen bedeuten, da sich die Nachfrage bis dahin verdoppeln dürfte.

Die weltweiten Lieferengpässe haben deutlich gemacht, wie wichtig Halbleiter in allen Branchen sind und welche Bedeutung die Vorhaltung eines gewissen Lagerbestands hat, um Störungen so gering wie möglich zu halten. Dies hat die Unternehmen dazu veranlasst, von einem „just in time“-Bestand zu einem erhöhten „just in case“-Bestand überzugehen. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob oder wann sich die Auswirkungen von Mehr- und Doppelbestellungen bemerkbar machen, wenn die Aufträge abgearbeitet sind und die Kunden keine zusätzlichen Bestände mehr aufbauen.