Seit einem Jahr schätzen es die Märkte umso mehr, wenn die Zentralbanken die geldpolitischen Daumenschrauben anziehen. Den Beweis hierfür gab es vor wenigen Tagen: Die US-Notenbank (Fed) und im Anschluss auch die Europäische Zentralbank (EZB) gingen zuletzt deutlich restriktiver vor als vielfach erwartet. Aber die Aktienmärkte ließen sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen, betont Olivier de Berranger, CIO bei LFDE. Auch die Zinsmärkte befinden sich in einer untypischen Lage. Hier nimmt die Invertierung der Zinskurven zwischen den kurzen Laufzeiten mit den höchsten Zinsen und den mittleren Laufzeiten, bei denen die Zinsen anders als üblich am niedrigsten sind, extreme Ausmaße an. Dieses Phänomen wird oftmals als Vorzeichen einer Rezession interpretiert. Doch die Volatilität bleibt niedrig. Wie lässt sich dies erklären?
NEUE PROGNOSEN
Man könnte die Hypothese aufstellen, dass die Zentralbanken im Vorfeld ihrer Sitzungen derart gut kommuniziert haben, dass sie keinerlei Überraschungen bereithalten und der Markt entsprechend gelassen reagiert. Das ist aber nur zum Teil richtig. Die Fed hat zwar eine Pause eingelegt, indem sie ihre Zinsen am 14. Juni unverändert bei 5 bis 5,25 Prozent belassen hat, und die EZB hat ihre Zinsen nur um 25 Basispunkte auf 3,5 Prozent angehoben sowie die geplante Einstellung aller Wiederanlagen im Rahmen ihres historischen Anleihenkaufprogramms bekräftigt. Das mit diesem Programm bei seiner Auflegung im Jahr 2014 ursprünglich verfolgte Ziel war übrigens die „Ankurbelung der Inflation“.
Doch gab es auf beiden Sitzungen dennoch Überraschungen. Zunächst in Form der neuen Zinsprognose der Gouverneure des amerikanischen Währungssystems. Sie gehen nunmehr von Leitzinsen in einer Bandbreite von 5,50 bis 5,75 Prozent zum Jahresende aus. Damit liegen sie um 25 Basispunkte über den jüngsten Prognosen und könnten möglicherweise für längere Zeit dort verharren. Denn der Präsident der Fed wies in seiner Pressekonferenz darauf hin, dass das Risiko bei der Inflation in Aufwärtsrichtung asymmetrisch sei und es bis zu einer Senkung der Leitzinsen noch „mehrere Jahre“ dauern könne, während der Markt schon für Anfang 2024 mit einer Zinssenkung rechnet.
WARUM REAGIEREN DIE MÄRKTE SO GELASSEN?
Auch mit ihren Wirtschaftsprognosen sorgte die EZB für überraschte Gesichter. Die Kerninflationsrate für 2024 und 2025 wurde von 2,5 auf 3 Prozent deutlich nach oben korrigiert. Das langfristige Ziel von etwa 2 Prozent scheint immer noch nicht in greifbarer Nähe zu sein. Da kann man sich übrigens die Frage stellen, warum die EZB die Zinsen vor diesem Hintergrund nicht stärker anhebt. Der Markt könnte dies begrüßen, da er die geldpolitische Straffung mühelos verkraftet. Der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers stellte genau diese Frage. Er zeigte sich verwundert, dass die US-Notenbank ihre Zinsen unverändert gelassen hat, obwohl sie ja im Grunde davon überzeugt ist, dass sie sie auf den nächsten Sitzungen deutlich anheben muss.
Wenn diese Welle neuer umgesetzter oder implizit angekündigter Straffungsmaßnahmen den Markt nicht verschreckt, sollte das dann vielleicht daran liegen, dass die Wachstumsprognosen nach oben korrigiert werden? Eigentlich nicht. Die Fed hat zwar ihre Prognosen für 2023 nach oben korrigiert, aber die EZB hat sie gesenkt.
STARKER ARBEITSMARKT HILFT
Andererseits beinhalten die Äußerungen sowohl dieser beiden Zentralbanken als auch anderer, allen voran der Bank of England, auch gute Nachrichten. Sie unterstreichen alle die überraschende Robustheit des Arbeitsmarktes, der praktisch keine Anzeichen einer Verschlechterung erkennen lässt, insbesondere nicht im Dienstleistungssektor. Auch wenn sich die Situation ganz schnell ändern kann, insbesondere in den USA, wo der Arbeitsmarkt flexibler ist, versetzt sie die privaten Haushalte in die Lage, dem Druck durch die Verteuerung von Krediten vorerst standzuhalten. Dies ist allerdings mit dem Risiko verbunden, dass die Beschäftigungsdynamik der Inflation über die Löhne Auftrieb verleiht. Doch die Geschichte hat gezeigt, dass eine gute Beschäftigungslage nicht zwangsläufig eine hohe Inflation nach sich zieht, was Japan jahrzehntelang unter Beweis gestellt hat oder auch die USA vor der Coronakrise. Ein solches Szenario ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber durchaus realistisch.
Die erstaunliche Gelassenheit der Märkte könnte sich also durch das Zusammenwirken von zwei Faktoren erklären lassen. Da ist zum einen die massive geldpolitische Straffung zur Bekämpfung der Inflation in Verbindung mit ersten Anzeichen für den Erfolg dieser Bemühungen. Zum anderen ist die Arbeitsmarktdynamik weiterhin stark, was es der Fed ermöglicht, ihr doppeltes Mandat zu erfüllen, nämlich den Erhalt von Preisstabilität und Beschäftigung. Trotz des durchwachsenen Erfolgs der Zentralbanken bei der Ankurbelung und dann bei der Eindämmung der Inflation in den vergangenen Jahren scheint der der Markt ihnen dieses Mal Vertrauen zu schenken und akzeptiert schwierige finanzielle Bedingungen im Gegenzug für den dauerhaften Rückgang der Inflation. Kann ein solches Spiel lange gutgehen?